Historische Konzeptionen des Agnes-Bernauer-Stoffes und seine Neufassung durch den Dramaturgen, Dr. Lenz Prütting

 

Der Agnes-Bemauer-Stoff ist ein historischer Stoff, speziell ein Stoff aus der bayerischen Geschichte um 1430/35 und damit auch aus der Stadtgeschichte von Vohburg. Damit stellen sich bei einer dramatischen Gestaltung dieses Stoffes genau dieselben Fragen wie bei der dramatischen Gestaltung aller anderen historischen Stoffe auch, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von historischer Wahrheit und dramatischer Wahrscheinlichkeit.

Zu diesem Themenkomplex gibt es eine umfangreiche Literatur, die schon bei Aristoteles beginnt und bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Die durchgehende Tendenz dieser Diskussion besteht darin, dem Dramatiker Freiräume zur dramatischen Gestaltung des jeweiligen historischen Stoffes zu sichern, die es ihm gestatten, unter Umständen, und das heißt aus dramaturgischen Gründen auch von der historischen Wahrheit abzuweichen.

Diese Fragestellung wurde in Deutschland v.a. ab 1770 akut, als die ersten Königsdramen Shakespeares in deutschen Übersetzungen vorlagen und zur Nachahmung reizten. Mit seinem „Götz von Berlichingen" schuf der jungen Goethe das klassische Muster eines Dramas auf der Basis eines Stoffes aus der deutschen Geschichte und löste damit eine ganze Welle von Ritterdramen aus. Und zu diesen Ritterdramen des 18. Jahrhunderts gehört eben auch die erste Dramatisierung des Agnes-Bernauer-Stoffes durch Toerring.

Die plausibelste Begründung für die Rechtfertigung dieser dramaturgischen Freiräume findet sich bei Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie", wo er schreibt: „Die Tragödie ist keine dialogisierte Geschichte", d.h. keine in Dialog-Form gebrachte Geschichtsschreibung, denn, so fährt Lessing fort, „die Geschichte ist für die Tragödie (und für den Dramatiker) nichts als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind."

Das heißt mit andern Worten: Der Dramatiker ist, laut Lessing, zwar weitgehend frei im Umgang mit dem historischen Material, seine Freiheit findet aber ihre Grenzen im historischen Vorverständnis, das der Leser oder Zuschauer von dem jeweiligen historischen Stoff und den darin eingebundenen historischen Gestalten mitbringt, und dieses historische Vorverständnis des Lesers oder Zuschauers darf der Dramatiker auf keinen Fall brüskieren. Diese Frage stellt sich erst recht, wenn der jeweilige historische Stoff nicht nur zur Landesgeschichte, sondern auch zur Geschichte der eigenen Stadt gehört, wie dies hier in Vohburg beim Bernauer-Stoff der Fall ist.

Im Fall des Bemauer-Stoffes hat sich das allgemeine historische Vorverständnis von dieser Geschichte insbesondere im Bemauer-Lied niedergeschlagen, das den Stoff weit über Bayern hinaus bekannt gemacht und in Erinnerung gehalten hat. Was der idealtypische Zuschauer, zumal hier in Bayern, vom Bernauer-Stoff weiß, lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
  1. Ausgangspunkt ist eine Liebesbeziehung zwischen dem Herzogssohn und Thronfolger Albrecht III. und der Baderstochter Agnes Bernauer aus Augsburg, also eine Liebesbeziehung über die gesamte mittelalterliche Ständepyramide hinweg zwischen ganz oben und ganz unten, denn die Bader galten als unehrlich, die Badestuben als Bordelle und die dort arbeitenden Bademägde als Huren. Damit lautet die erotische Konstellation: Herzogssohn und Badhur, eine Konstellation, die dramatisches Konfliktpotential in Hülle birgt.
  2. Albrecht und Agnes verlieben sich nicht nur ineinander, sondern heiraten sogar in aller Form und brüskieren damit die dynastischen Interessen des Herzogs und darüber hinaus alle Normen der mittelalterlichen Ständegesellschaft.
  3. Agnes wird in einem Prozess auf Betreiben des Herzogs und des Hofes zum Tode verurteilt und in der Donau ertränkt.
  4. Trotzdem versöhnt sich Albrecht irgendwie wieder mit seinem Vater und folgt ihm auf dem Thron.
Was der Historiker über die Bernauer-Geschichte weiß, ist im Grunde genau dasselbe und übertrifft das hier skizzierte historische Vorverständnis des normalen Zuschauers in allen entscheiden Punkten um nichts, insbesondere nicht in der Frage, warum Albrecht sich mit seinem Vater als dem Mörder seiner Frau wieder ausgesöhnt hat. Hier muss in jedem Fall spekuliert und gemutmaßt werden, denn einschlägige Dokumente oder sonstige Zeugnisse liegen nicht vor.

Wer also nun eine historische Abhandlung über die bayerische Geschichte des 15. Jahrhunderts schreibt und im Rahmen dessen auch die Bernauer-Episode behandelt, wird wohl oder übel verschiedene Möglichkeiten darlegen, die das Verhalten Albrechts als plausibel erscheinen lassen. Der Historiker kann aber auch so ehrlich sein, und zugeben, dass er den eigentlichen Grund für Albrechts Verhalten schlichtweg nicht weiß. Genau dies aber kann der Dramatiker nicht.

Der Dramatiker muss Farbe bekennen und ein plausibles Motiv für Albrechts Verhalten anbieten und zwar ein Motiv, das mit dem Verhalten, das Albrecht bis dahin gezeigt hat, in Einklang steht, und (ganz wichtig!) das außerdem auch noch vereinbar ist mit dem Bild, das das Publikum von ihm immer schon hatte.

Wenn ich nun dazu übergehe, die bisherigen wichtigeren dramatischen Gestaltungen des Bernauer-Stoffes bis hin zu Greif Revue passieren zu lassen, werden wir sehen, wie unterschiedlich die Lösungen waren, die die Dramatiker gefunden haben, um genau diese Frage nach Albrechts Wende zu beantworten. Wie so oft in der Literaturgeschichte ist es auch hier so, dass die Autoren sich die Stoffe gleichsam zureichen und dabei in eine Art von Dialog und Wettbewerb miteinander treten.

Der erste Autor, der den Bernauer-Stoff dramatisierte, war Joseph August von Toerring (1753-1826), der 1780 ein „Vaterländisches Schauspiel" „Agnes Bemauer" veröffentlichte, ein Stück, das sich wie eine Mischung aus Ritterstück á la „Götz" und bürgerlichem Trauerspiel à la „Kabale und Liebe" liest. Toerring selbst lebte, als er sein Stück schrieb, in einer ähnlichen unstandesgemäßen Liebesbeziehung wie sein Held Albrecht, opponierte wie Albrecht in seiner Verliebtheit erst auch gegen das Standesvorurteil, rang sich dann aber, als ihm der Familienrat der Toerrings das Messer auf die Brust setzte, zur Anerkennung „unverbrüchlicher Ordnungen“ – genau wie sein Held Albrecht auch – durch, und gab seiner bürgerlichen Geliebten den Laufpass. Ganz ähnlich wird in seinem Stück Agnes deshalb geopfert als „Schlachtopfer des Staates", aber die Schuld an ihrem Tod trägt nicht der Herzog, sondern der Vicedom, der Statthalter zu Straubing (Anm. d. Red.), der dies rein aus persönlicher Rache gegen Albrecht ins Werk setzt. Den Herzog anzuklagen hatte Toerring nicht gewagt. In Toerrings Stück bleibt die staatliche und ständische Ordnung also gewahrt, ohne dass die Spitzen von Staat und Gesellschaft schuldig werden müssen.

Friedrich Hebbel (1813-1863) nannte sein Bernauer-Stück von 1855 ein „deutsches Trauerspiel", mit dem er Toerrings vielgespieltes Stück korrigieren wollte. Denn für ihn war Toerrings Ausweichen davor, den Herzog am Tod der Agnes schuldig werden zu lassen, knieweiche Feigheit vor dem Stoff und eine Kapitulation vor den Möglichkeiten, tragisches Potential zu entfalten. Hebbel war ja immer auf der Suche nach tragischen Stoffen und tragischen Konflikten, und hier im Bernauer-Stoff sah er deren gleich zwei. Einmal Agnes selbst, die unschuldig schuldig ist, weil sie durch ihre geradezu überirdische Schönheit alle irdischen und damit eben auch alle staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen sprengt; und dann ist für Hebbel natürlich der Herzog Ernst eine tragische Gestalt, weil er zwangsläufig und unausweichlich als Mensch schuldig werden muss, wenn er als Staatsmann sinnvoll und konsequent zum Wohl des Staates und damit zum Wohle aller handelt und Agnes umbringen lässt. Da er aber schuldig geworden ist, dankt er am Schluss zugunsten seines Sohnes ab und geht ins Kloster. Albrecht hatte noch beim Pausenschluss zur Revolution gegen die väterliche Ordnung aufgerufen – „Bürger und Bauern, heran!“ – , geht aber am Ende des Stückes vor seinem Vater in die Knie und endet wie der verlorene Sohn der Bibel in der Umarmung des väterlichen Würgegriffes.

Wie Toerring sah also auch Hebbel den Bemauer-Stoff aus der Sicht des Konservativen und wollte mit seinem Stück dem alten Reich ein Denkmal setzen und damit gleichsam die Revolution von 1848 zurücknehmen, da auch in dieser Revolution die „wahnsinnige Emanzipationssucht des Individuums" genau so an den Schlaf der Welt gerührt hatte, wie schon Agnes und Albrecht dies getan hatten.

Nun zu Martin Greif (1839-1911) und seinem „Vaterländischen Trauerspiel"
„Agnes Bernauer, der Engel von Augsburg" von 1894. Greifs Bernauer-Stück entstand im Rahmen einer ganzen Serie von Stücken um 1890, die alle Stoffe der deutschen mittelalterlichen Tragödien zum Thema hatten, und die meist in München uraufgeführt wurden.

Greifs Bernauer-Stück ist das dramaturgisch geschickteste aller Bemauer-Stücke,
weil Greif das entscheidende Problem des Stoffes, die Versöhnung Albrechts mit seinem Vater nach dem Tod der Agnes, als einziger überzeugend gelöst hat. Greif erfindet nämlich einen Abschiedsbrief der Agnes an Albrecht, in dem diese ihn unmittelbar vor ihrem Tod bittet, nicht Rache zu nehmen, sondern sich mit seinem Vater auszusöhnen zum Wohle aller. Und dies tut Albrecht dann auch.
Agnes ist bei Greif also nicht, wie bei Toerring, willenloses Opfer einer Intrige oder, wie bei Hebbel, willenlos schuldig allein durch ihre Schönheit, sondern sie ist selbst Handelnde und mit Recht die Zentralgestalt des Stückes, die mit diesem Abschiedsbrief den Gang der Handlung in ihrem Sinne noch über ihren eigenen Tod hinaus lenkt. Dadurch ist Greif auch nicht gezwungen, den Herzog Ernst von aller Schuld am Tod der Agnes zu entlasten, sondern der Herzog bleibt so schuldig wie er in Wirklichkeit auch war. Die Staatsräson triumphiert in Greifs Stück also nicht, wie bei Toerring oder gar bei Hebbel, weil sie ein höheres, metaphysisch begründetes Recht beanspruchen kann, sondern Greif macht seine Agnes zu einer großen Entsagenden, geradezu zu einer Heiligen (siehe Titel!), durch deren Entsagung die von den beiden Konservativen Toerring und Hebbel so hoch gefeierte Staatsräson gleichsam ins Leere läuft und dem Land ein Bürgerkrieg zwischen Vater und Sohn erspart bleibt.

Obwohl Greif sich in seinem Bernauer-Stück von Hebbels Deutung des Stoffes ganz freigemacht hatte, blieb er als Dramatiker doch ganz deutlich ein Epigone Hebbels, der mit seinem Vorbild alle Stärken und Schwächen teilt. Wie Hebbel neigt auch Greif dazu, das Verhalten seiner Dramengestalten durch Übermotivation und ständiges Räsonnieren zu verdeutlichen, und dies führt zu unendlicher, ermüdendster Redundanz und zu einem unendlich langsamen und zähen szenischen Ablauf. Dies zwingt den Bearbeiter dazu, Greifs Text entschlossen „auszukämmen", also zu verknappen, zu straffen, zu beschleunigen und zu pointieren. Der Zuschauer von heute, der durch Kino und Fernsehen in seiner Rezeptionsweise auf flinkes Verstehen trainiert ist, muss nicht alles zehnmal gesagt bekommen, damit er es endlich kapiert, und außerdem darf man an die mitschaffende Fantasie des Zuschauers in einem weit höherem Maß appellieren, als Greif und Hebbel sich das je vorstellen mochten.
Greifs Stücke wurden in ihrer Zeit zwar gespielt, aber Greif war letzten Endes doch kein echter Bühnenautor, weil er kein ausgeprägtes szenisches Gespür hatte. Dies zeigt sich in seinem Bemauer-Stück vor allem beim Schluss, den Greif so umständlich wie nur irgend möglich geschrieben hat und der erkennen lässt, wie unendlich redundant und umständlich sein Stil war. All das, was in den Szenen ohnehin sichtbar wird, muss bei ihm zusätzlich immer noch versprachlicht werden. Vor allem aber bringt Greif seinen eigenen glücklichen Einfall, die Wende Albrechts durch einen Abschiedsbrief der Agnes zu begründen, um jede szenische Wirkung.
Hier musste ich natürlich eingreifen. In meiner Fassung erlebt der Zuschauer, wie der Brief von Agnes im Kerker geschrieben wird, erfährt davon jedoch nur die Anfangsworte und lernt den gesamten Wortlaut des Briefes erst kennen, wenn Albrecht ihn auf der Szene liest und dadurch vom Rachefeldzug gegen seinen Vater abgebracht wird. Und selbstverständlich findet die Szene auch nicht auf einem neuen Schauplatz statt (wie bei Greif), sondern vor dem Schloss in Straubing, einem schon eingeführten Schauplatz.

Zur Gesamtdeutung des Stoffes in dieser Bearbeitung ist Folgendes zu sagen: Selbstverständlich wollte und durfte ich das dramaturgische Motivationsgeflecht Greifs nicht beschneiden, weil es eben im Ganzen in sich überzeugend ist, auch bei allen Mängeln der rein szenischen Umsetzung. Hier habe ich durch kräftige Eingriffe, durch den Einbau von Liedern und dem Spiel mit Requisiten die szenische Struktur entscheidend verbessert.
Ich habe aber auch noch ein zusätzliches Motiv eingefügt, das in den bisherigen Fassungen des Stoffes nicht vorkommt, das Motiv des „amour fou", also das Motiv der verrückten, weil ganz und gar unmöglichen Liebe. Aus diesem Grund zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück der Satz „Das kann nicht sein." resp. „Das darf nicht sein." Sätze, mit denen alle Beteiligten diese verrückte Liebe kommentieren, und zwar nicht nur die Gegner dieser Liebe, sondern auch die Liebenden selbst, und diese als erste.

Ein weiterer Aspekt dieser Bearbeitung besteht darin, dass ich bestrebt war, das szenisch-gestische Element gegenüber dem rein sprachlichen zu verstärken, dass ich aber zugleich versucht habe, den Schauspielern und dem Regisseur durch verdeutlichende Regieanweisungen zuzuarbeiten.
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Auszug aus dem Redemanuskript von Dr. Lenz Prütting zur Neufassung des Greif’schen Agnes Bernauer Stücks anlässlich der Eröffnungsveranstaltung der Agnes-Bernauer-Festspiele am 23.11.2000 in der Volksschule Vohburg